Das Verbrechen
[…] Wenn sie an ihn dachte, geschah es anders als sonst. Sie fühlte die Härte seines Mundes, die Kühle seines Lächelns, die Zärtlichkeit seiner Hände, aber ohne Zusammenhang mit ihrem eigenen Körper. Ihre Sinnlichkeit, auf die Gesichte ihrer Phantasie angewiesen, gewöhnte sich an Bilder und Vorstellungen, die den unbewußten körperlichen Trieb vernachlässigten und seine Bedürfnisse in Versuchungen des Geistes auflösten. Diese Inzucht des Geistes ermöglichte es ihr, sich der Bildersprache ihrer Sinnlichkeit hinzugeben, ohne gegen sich selbst den Vorwurf der Unzucht erheben zu müssen. Aber ihr Instinkt begriff, daß sich dieses Versteckspiel auf die Dauer nicht aufrechterhalten ließ, und veranlaßte prophylaktisch eine Umwälzung ihrer Lektüre. Auf dem Umweg über medizinisch-psychopathologische Broschüren geriet sie bald auf eine Spur, fand da und dort ein Buch anderer Länder, Zeiten, Sitten und Gebräuche, das sie belehrte, daß das Todesurteil, das über ihre Liebe verhängt war, einen Moralbegriff der Zeit darstellte und keineswegs ein sittliches Fundament der Menschheitsgeschichte. Sie revidierte ihre religiösen und sozialen Ansichten, kämpfte sich mühselig durch einige geschichtliche, philosophische, wirtschaftliche, juridische und staatswissenschaftliche Werke durch und sammelte ein Kauderwelsch von Begriffen, die sie zu einem kühnen Kartenhaus der Verteidigung auftürmte, bis sie, befreit von dem Alpdruck der Verworfenheit, sich Mitleid mit sich selbst leisten durfte. Sie begriff zum ersten Male, da ein Westeuropier des zwanzigsten Jahrhunderts, das im Zeichen der Mechanisierung des Instinktes steht, entwurzelt ist und da sein Blut rechtlos ist, weil es durch zu viele Jahrhunderte geflossen ist.
Es läßt sich nicht mehr feststellen, ob Agnes ihren Vater wirklich liebte oder ob sie ein Opfer ihrer Suggestibilität war, die unter dem Einflug der väterlichen Theorie einerseits, der mißdeuteten wissenschaftlichen Werke andererseits ihre Phantasie dem Zwang dieser Vorstellung unterjochte und ihre wache Erotik von dem eigenen Körper ablenkte und an dieses Gleichnis der Liebe fixierte. Später, als das Unglück geschah, konnte sie selbst nicht mehr die Ereignisse entwirren, die sich in ihrem Blut gestaut hatten, bis es sich einen neuen Kreislauf bahnte.
Vorerst aber hatte sie noch keine äußere Veranlassung, die Triebkräfte, die ihr Leben bewegten, zu kontrollieren, ihre Jugend bestand auf dem Recht des Vertrauens, auf dem Recht eines luxuriösen Aufwandes an Gefühlen für alles, was der Augenblick bot und behinderte.
Die Gleichgültigkeit, die ihr Vater beobachtete, verschärfte seme Autorität, erhöhte die Gewohnheit des Gehorchens zur Prüfung ihrer Neigung. Sie wagte es nicht, sich ihm noch einmal entgegenzustellen, aber ihre wortlose Unterwerfung bereitete ihr einen verzweifelten Genuß. Blieb er einmal zu Hause, so empfand sie das als persönliche Genugtuung. Sie gewöhnte sich daran, auf den Abend zu warten, ihre Nervosität steigerte sich von Stunde zu Stunde; sie belauerte sein Gesicht, seine Bewegungen, häufte gute und böse Anzeichen zu einem System an, bis der Abend mit seiner Entscheidung ohne Freude und ohne Trauer über ihren überreizten Nerven zusammenschlug.
Einmal verzögerten Vorbereitungen die gewohnte Stunde seines Aufbruchs, überspannten den vorgesehenen Kraftaufwand. Sie brach in Tränen aus, wollte das Zimmer verlassen, um sich zu verbergen, an der Tür blieb sie stehen, jäher Entschluß breitete ihre Arme aus, daß sie die Tür verbarrikadierten, in einer Pose, als wäre sie ans Kreuz geschlagen. Eine fremde Stimme, die gegen ihren Willen aus ihr hervorbrach, eine heisere, rasende Stimme sagte: »Du sollst nicht fortgehen.«
Sie fühlte, daß ihr Vater lächelte, aber sie bezog das nicht auf sich, fühlte sich nicht verantwortlich für den Sinn der Worte, den sie selbst nicht begriff, die Spannung ihrer Nerven löste sich in eine sonderbare Heiterkeit des Körpers auf. Der Oberhoheit ihres Intellekts entwachsen, hatte ihr Blut sein eigenes Leben begonnen, führte die Verteidigung seiner Wünsche in eigener Regie, auf seine Rechnung und Gefahr: wurde Stimme in ihr, Gesetz, Mission. Agnes fühlte, daß etwas Unbegreifliches geschah, das mit dem Lächeln ihres Vaters in einem geheimnisvollen Kontakt des Vergnügens stand, das ihre Denkkraft betäubte, ihr Bewußtsein erschlaffte, aber sie fühlte keine Veranlassung. sich damit zu identifizieren. Es schien ihr ein Traum mit wachen Augen, der ihre Verantwortlichkeit in die groteske Gläubigkeit des Schlafens auflöste.
Die fremde Stimme aus ihr wiederholte: »Du sollst nicht fortgehen. Du spielst mit mir. Wo verbringst du die Abende? Ich habe keinen Menschen als dich. Du sollst nicht lachen. Ich weiß nicht, was ich spreche. Es spricht aus mir. lrgend etwas ist mit mir geschehen, ich begreife es nicht. Du sollst mir helfen. Warum zwingst du mich, um etwas zu bitten, was mir zukommt?«
Sie schwieg erschöpft. Begriff, daß der Kampf des Schweigens entnervender war, als Worte sein konnten, fuhr fort: »Du willst mich nicht verstehen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Du mußt Nachsicht mit mir haben. Ich will dich nicht anklagen. Ich will mich nicht in dein Leben drängen, wenn kein Raum für mich vorgesehen ist. Ich will keine Kritik an dir üben und will dir nichts vorschreiben. Ich weiß, dass ich mich aufreibe zwischen Hoffnungen und Verzweiflungen. […]
Tratto dalla novella Das Verbrechen, in: Mela Hartwig, Das Verbrechen, Novelle und Erzählungen. Wien 2004, pp. 37-40