Das erste Verhör
Im Gerichtsgebäude riß Sabine sich unversehens los, entsprang dem Polizisten in einen der Gänge hinein, taumelte flüchtend vorwärts, stolperte einige Treppen hinab, drang in ein Zimmer ein, brach in die Knie: »Retten Sie mich!«
Eine heisere, verstaubte Stimme zwängte sich dünn und mühsam durch Stöße von Akten hindurch: »Ihr Nationale?«
»Verschliefen Sie erst die Tür«, drängte Sabine.
Aber die Stimme bestand auf Ordnung und Recht: »Erst Ihr Nationale.«
»Sabine Seltsam«, gestand sie verzweifelt. »Verstecken Sie mich.«
»Wie alt sind Sie?« forschte die Stimme weiter.
»Erbarmen!« wimmerte Sabine. »Dreiunddreißig. Er wird mich schlagen.«
Eine Feder fuhr kreischend über Papier. »Zuständigkeit?« erkundigte sich die Stimme unbeirrt.
»Polen«, schrie Sabine entsetzt auf. Im Rahmen der Tür stand dräuend der Polizist. »Zweiter Fluchtversuch«, stellte er fest. Hinter den Aktenstößen tauchte ein mißmütiges Gesicht hervor. Der Polizist knickte zusammen: »Ich habe Sie nicht gesehen, Herr Hofrat.«
Geschmeichelt von diesem unerwarteten Avancement wehrte der junge Richter bescheiden ab: »Zur Sache.«
Der Polizist fühlte, daß er mit diesem glücklichen Einfall bereits das Herz des jungen Mannes gewonnen hatte, und wurde dreister: »Eine Simulantin, Herr Hofrat, durch und durch verlogen. Sie ist mir hier im Gebäude entwischt. Aber ich habe die Tore besetzen lassen. Ich führe sie zu Gz 777 vor.«
Der Richter nahm den Polizeibericht entgegen, las ihn Wort für Wort, während der Polizist stramm stand und sich erst entfernte, als er ihn mir einer gnädigen Handbewegung entlief.
»Ihre Flucht war ein Geständnis«, triumphierte er.
Sabine richtete sich mühsam auf, näherte sich schwankend dem Schreibtisch; die Stimme versagte ihr fast vor Erregung: »Ich bin unschuldig.«
»Sie haben sich nicht sehr beeilt, mir diese Mitteilung zu machen,« spottete der Untersuchungsrichter.
Sabine schwieg betroffen.
»Wenn Sie heute schon gestehen, kann ich Ihnen vielleicht die Untersuchungshaft ersparen«, lockte er, eine Sirene der Gerechtigkeit.
Sabine staunte: »Was soll ich gestehen?« Er lächelte diskret. Da begann in ihrem Herzen ein furchtbarer Verdacht:
»Geht es Ihnen um cm Geständnis oder um die Wahrheit?« schrie sie außer sich.
»Das ist eine müßige Frage, rügte er gefaßt, »wenn Geständnis und Wahrheit unzertrennlich sind, wie in Ihrem Fall.« Er riet:
»Leugnen Sie mir Maß.«
»Ich bin unschuldig«, wiederholte sie ungeduldig.
Er brach das Verhör ab. »Ich will Sie nicht überrumpeln«, erklärte er überschwenglich. »Sie wurden abgefaßt, Sie sind auf das Verhör nicht vorbereitet. Ich bewillige Ihnen zehn Minuten.« Er sank hinter die Aktenstöße zurück, addierte murmelnd Kolonnen von Indizien. Zwischen den Fugen dieser Barrikade aus Papier und Staub spähte er hervor und Sabine ins Gesicht, hoffte, daß es sie in irgendeinem Zug verriet, wenn sie sich nur erst unbeobachtet glaubte. Aber es regte sich nicht.
»Das Spital der >Barmherzigen Schwestern< hat pflichtgemäß die Anzeige gegen Sie eingebracht«, begann er nach einer Weile unvermittelt und richtete sich so jäh auf, da Sabine sich erschreckt duckte. Diese unwillkürliche Bewegung befriedigte ihn in hohem Maße. »Es handelt sich, wie Ihnen bekannt sein dürfte, um eine künstliche Fehlgeburt« fuhr er fort.
»Beweisen Sie mir das«, stammelte das Mädchen.
»Das werden Ihnen die Sachverständigen beweisen«, entgegnete er ruhig.
»Ich bin Medizinerin,« verteidigte sich Sabine. »Ich lasse mich nicht mit wissenschaftlichen Hypothesen abspeisen. Ich werde die Sachverständigen widerlegen.«
»Das Rezept«, triumphierte er.
Sabine starrte ihn verstört an: »Woher wissen Sie das?« Er lächelte.
»Ich will Ihnen alles sagen«, murmelte sie.
Er rückte das Protokoll zurecht, ergriff die Feder. Das Mädchen sprach so leise, daß er nur mit Mühe die einzelnen Worte unterschied, aber er wollte das Geständnis nicht gefährden und schwieg zu dieser neuerlichen Verletzung einer Staatsbürgerpflicht, wenn auch gegen seine Überzeugung.
»Vielleicht war es nur Hysterie«, fuhr Sabine fort. »Aber ich glaube, es waren auch Gefäßstörungen. Ich habe nicht geblutet, drei, vier Monate lang. Das war meine Schwangerschaft. Ich bin mondsüchtig. Ein Alb hat mich genarrt. Der Mond schien mir ins Gesicht und in den Schoß. Der Mond hat mich umarmt, aber kein Mann. Ich bin häßlich, ich weiß. Kein Mann hat mich umarmt. Ich aber wollte den wunderbaren Traum bis ans Ende auskosten, ich wollte mein Abenteuer haben, ich wollte mein Schicksal haben, ich wollte mich in dieser einen, einzigen Nacht für alle Entbehrungen, alle Verzichte des Körpers entschädigen. Ich wollte an das Wunder glauben und habe nur an meine Schwangerschaft geglaubt.« Erst in diesem Augenblick begriff sie, daß sie ihr einziges, ihr köstliches Geheimnis der Willkür einer Amtshandlung ausgeliefert hatte, daß es jedem frivolen Scherz, jeder zynischen Verunglimpfung wehrlos preisgegeben war, daß sie leichtfertig und um eines zweifelhaften Vorteiles willen ihren heiligen Anspruch auf Scham aufgeopfert hatte; sie brach jäh ab und begann fassungslos zu weinen.
Das Gesicht des Untersuchungsrichters verzerrte sich vor Wut: »Verlangen Sie ernsthaft, daß ich an dieses Märchen glaube?«
Jubelnd ergriff Sabine diese unverhoffte Gelegenheit, ihr gütiges Abenteuer vor der Nüchternheit eines Kreuzverhörs zu retten. »Ich widerrufe« kreischte sie. »Ich widerrufe. Vergessen Sie jedes Wort. Das verlange ich von Ihnen. Zerreißen Sie das Protokoll. Ich werde es nicht unterzeichnen. Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich werde mich nicht mehr verteidigen.«
»Sie gestehen also?« unterbrach er sie begierig.
»Das ist schamlos,« raste Sabine. »Frage ich Sie nach Ihren Abenteuern im Bett? Ich aber, ich soll einem Mann im Namen des Gesetzes die spitzfindigen Sinnlichkeiten meines Körpers gestehen, die erfinderische Übung seiner einsamen Lust, seine geilsten Erlebnisse im Geiste, wann er blutet und warum er sich krank gegen die Gesetze der Natur auflehnt und sich in gewalttätiger Vision für alle Entbehrungen rächt, die er seiner Reizlosigkeit wegen erfährt. Ich habe mich anders besonnen, ich verzichte auf diesen schamlosen Beweis meiner Unschuld. Ich bin keine Hure, Herr, und jetzt frage ich Sie: Mit welchem Recht kriecht mir das Gesetz zwischen meine Beine?
»Aber das ist doch eine Amtshandlung, lallte der Richter flehend. »Bedenken Sie doch, eine Amtshandlung.« Er rang nach Atem. »Sie werden sich auch dafür zu verantworten haben. Jedes unflätige Wort wird sich in einen Tag Haft verwandeln. Das verspreche ich Ihnen. Sie sind ein asoziales Individuum. Sie sind eine Verbrechernatur. Ihnen ist nichts heilig. Ich sage Ihnen auf den Kopf zu, daß Sie vorbestraft sind. Leugnen Sie nicht: Sie sind vorbestraft. Ich werde Ihre Strafkarte einholen.« Er begriff seinen Vorteil und fügte hinzu: »Gestehen Sie und ich werde dieses verhängnisvolIe Protokoll vernichten und jeden Bericht über dieses Verhör niederschlagen.«
»Ja, ich will gestehen«, jubelte Sabine. »Ich will. Ich gestehe, daß ich ein Narr war. Das gestehe ich. Ich gestehe, daß ich unbescholten bin. Aber vielleicht verzeichnet die Strafkarte heutzutage auch, wie oft einer gehungert hat, und das rasende Bedürfnis, ein Stück Brot zu stehlen, wie oft einer obdachlos war und in den Massengräbern der Kanäle genächtigt hat, und jede Not des Körpers und der Herzen. Denn Elend ist Gesinnung. Gefährliche Gesinnung, der der Magen knurrt und das Gehirn vor Müdigkeit rotiert. Ich bekenne mich schuldig des Verbrechens der Arbeitslosigkeit, des Verbrechens des Hungers, des Verbrechens jeder Not. Ich gestehe, daß ich unschuldig bin.«
»Sie sind verhaftet« keuchte der Richter, sinnlos vor Wut. »Ihr Hochmut wird Ihnen vergehen, das verspreche ich Ihnen. Betteln werden Sie noch, daß ich mir Ihr Geständnis gefallen lasse.«
Dann ließ er sie abfuhren. Sein Gewissen sprach: >Fluchtgefahr.<
In: Mela Hartwig, Das Verbrechen, Novelle und Erzählungen. Wien 2004, pp. 102-105