Einsamkeit und Leichtsinn
Hinter dem Neubau lag freies Feld voll Schutt und Mörtel, dann kam Laubengelände, eine Brücke, unter der Eisenbahnschienen blank in den Horizont liefen, und in der Ferne ein grauer Streifen Wald. Die Straße wurde noch gepflastert, in den schmalen Vorgärten wuchs erstes Grün aus braunen Sandhaufen, doch das Haus selbst war fertig, ein breiter riesiger Kasten mit flachem Dach, fünf Reihen niedriger, breiter Fenster, roten Mörtelbändern und weißen Holzschildern: Beschlagnahmefreie 11/2-, 2 1/2-, 3 1/2-Zimmer- Neubauwohnungen!
Die Mieter kamen langsam, verstreuten sich in dem großen Block, der Platz für Hunderte bot, verloren sich in dem neuen Land, das sie mit Frieden und dem Lärm der Nachbarn beschenkte, und schufen aus den Mauern, die nach Farbe und Fremde rochen, zahllose Heime unbekannter Leben. Hell war das Haus, leicht gebaut, so leicht, daß ein Laut durch die Wände ging wie durch Seide, und von allen Seiten mit Balkons, Veranden und Fenstern dem Licht geöffnet, das oben unter dem Dach durch die breiten Scheiben die Bläue des Himmels und die Wärme eines jähen Frühlings schickte.
Hierher in die Sonne rückte Mary den Zeichentisch, stellte ihn an das Fenster, und es war das erste Mal, daß sie eine Spur von Rührung überfiel. Da stand sie und blickte sich um, plötz1ich mit Auge und Ohr lauschend: Sie war allein. Sie, Mary Elisabeth Antonie Riek, war allein in ihrer Wohnung!
Sie war allein! Dies war das einzige von aller Angst und Freude der letzten Zeit, von Unruhe und Lust ihres neuen Daseins, was sie wirklich begriff: allein sein, einsam sein zwischen fremden Wänden, in Mauern, die sie als erste mit Leben erfüllte, mit dem Klang ihrer Schritte und dem Schlag ihres unruhigen und begehrlichen Herzens.
Sie lauschte, aber alles schwieg.
Da hörte sie sich lachen; es war der erste Laut, den sie in diese Wände pflanzte wie in Erde, und während sie den Widerhall dieses leisen, rufenden Lachens erwartete, legte sie die Hand an die Mauer, fühlte sie warm von Sonne und ging bewegt von Freude durch das Zimmer in den kleinen Flur.
Der Tisch mit dem Gaskocher stand noch im Schlafzimmer; sie trug ihn in den Flur, baute ihn neben dem Spiegel auf, fand diesen Küchenersatz so komisch, daß sie den Kopf schüttelte, und lief wieder in das Wohnzimmer und zu den neuen Möbeln zurück. Es waren nicht viele: eine Couch mit gelbem Bezug und roten Kissen, niedrige, holzfarbene Regale, ein Zeichentisch, vier Strohhocker, ein Tischchen und drei Kisten voll Bücher, Andenken, Briefe, Puderschachteln, Zeichnungen und Geschirr. Für das zweite Zimmer besaß sie nicht mehr als ein großes Bett mit niedrigen Wänden und einen runden, ebenso niedrigen Tisch, die gerade zwischen Fenster und Tür Platz hatten. Sie warf sich quer über die Matratze, blickte in den Himmel, der blau neben ihrem Kopfkissen stand, und erhob sich mit neuem Eifer, um das Wohnzimmer fertigzumachen, das heißt: Kissen zu legen, Bücher durcheinander zu werfen, in alten Briefen zu lesen, auf der Couch Probe zu liegen und die Lampe vor die weiße Wand zu stellen. Der Lampenschirm war rot, leuchtendrot rot, und sie betrachtete ihn entzückt, da er das weiße Zimmer bunt und farbig machte.
Bunt sollte es sein; das Bunte liebte sie wie heftige Gebärden, schnelle Sprache, Lärm und Unruhe; war selbst ein wenig bunt, die Lippen zu groß und hell geschminkt, rote Flecken an den Augenecken, da wo es blank aus schwarzen Strichen hervorleuchtete, die kurzen Haare in einer braun-roten Locke auf der Stirn.
In einem alten Rock, die weiße Bluse fest um die Hüften gespannt, bewegte sie sich eilig wie immer; wusch die Böden auf, lachte dabei, Nun schloß sie das Fenster und fand sich in Dämmerung, die blau in das Zimmer fiel.
Auf einmal ging die Klingel. Vor der Flurtür stand ihre Mutter in einem zu langen Mantel, einen runden Hut auf dem Kopf, einen Blumentopf in der Hand.
«Tag, Mary!» sagte sie, während sie eintrat und ihr den Topf reichte, «ich wollte nur mal sehen, wie es nun ist, und dir Glück wünschen,.. für die neue Wohnung..,»
Mary war fast gerührt. Dabei mußte sie lächeln, denn die Mutter kam wie zu einem Trauerbesuch, ganz in Schwarz, und ihre Stimme klagte noch grämlicher als sonst.
«So wohnst du nun», sagte sie unzufrieden. Ihr Kopf bewegte sich, daß zwei ergraute Haarsträhnen plötzlich wie abgeschnitten aus dem topfartigen Hut fielen. «Ja, so wohne ich nun. Hübsch, nicht?»
«Na, ich fand es früher hübscher.»
«So, ich nicht.»
Eine Weile blieben sie stumm nebeneinander auf der Couch sitzen, zwischen sich den Primeltopf. Mary entzündete eine Kerze, deren gelbe, zuckende Strahlen rasch an den Wanden emporliefen.
«Ich habe noch kein Licht», sagte sie, «die elektrischen
Männer kommen erst morgen.»
Die Mutter nickte. Sie blickte in die Flamme und sagte: «Na, immerhin, es ist ja ganz gut, daß du die Wohnung bekommen hast. Trotzdem, der Preis... Der arme Alfred! Aber bei Frau Arend konntest du ja nicht ewig bleiben, und zu uns wolltest du ja nicht... Und Papa...»
«Ich weiß», sagte Mary wütend. «Papa hätte mich ja gar nicht genommen. Außerdem...» Außerdem, dachte sie, hätte ich das auch gar nicht ausgehalten. Aber sie wollte nicht davon sprechen, wollte die Erinnerung an diese drei Wochen bei Else Arend loswerden, die sinnlosen, zermürbenden Szenen mit ihrem Mann, die stundenlangen Gespräche über ihre Zukunft. Und so sagte sie nur: «Hör schon davon auf, Mama, es ist wirklich genug. Ich bin sehr müde, weißt du. Und sehr froh, daß es nun endlich so weit ist. Man muß sich ja mal klar werden über das, was man will. Und ich will eben das hier.»
Indem hörte sie die alte Frau schluchzen. Sie weinte so unerwartet, als hätte sie durch Jahre die Tränen in ihren beweglichen, kleinen Augen aufgespart.
«Ah», machte Mary betroffen: Da war sie schon wieder gefangen; es kam ihr nach mit Tränen und Vorwürfen, nichts half, nicht einmal die Flucht, das Vergangene blieb um sie wie die düstere, von Kamillen- und Baldriangerüchen erfüllte Luft ihres Kinderhauses. Diese Tränen erinnerten an die Tränen, die Mary selbst vergossen hatte, aber jetzt schämte sie sich ihrer; sie bewegte sich schnell, faßte die Mutter an den Schultern, schrie ihr in das Gesicht, in dem sie jäh die Form ihres eigenen Gesichts, die gierige und schwache Haltlosigkeit ihres Kinns, den sehnsüchtigen Bogen ihrer Lippen wiederfand: «Was ist denn? Warum weinst du? ... Ich sage dir doch, daß ich glücklich bin! Ja, glücklicher als vorher.»
«Du armes Kind», schluchzte die Alte, «so mußt du nun wohnen! Und das schöne Haus... und der Salon... und die schönen Kissen im Herrenzimmer, das ist nun alles weg. Nicht mal die Uhr aus dem Eßzimmer hat er dir mitgegeben...»
«Ich wollte sie doch nicht!»
«...und die Decke auf dem Eßtisch, die gehörte doch dir... Hättest du wenigstens das Schlafzimmer mitgenommen, aber du bist ja so unvernünftig. Und Papa sagt, du bist schuld, und wenn die Scheidung kommt, dann kriegst du
überhaupt nichts ... und ob du nicht frisieren lernen willst. Da drüben bei Knöppcke wohnt eine Dame, die geht frisieren ... Aber vielleicht gibt dir Alfred doch etwas, das mußte er eigentlich ... Papa sagt nein, aber ich sage ja. Du erzählst mir ja nichts, du bist ja so, aber ich kann mir schon denken... Ich hab ja auch nicht gewollt, daß du ihn heiratest, aber die Mutter wird ja nicht gefragt. Alfred wird schon wissen, warum er dich gehen läßt, der ist auch nicht besser als alle andern,... und einmal hat ihn Frau Neumann mit so \\\'ner Blonden auf dem Kurfürstendamm gesehen...»
«Hör auf!»
Die Alte schwieg sofort, Ihr Mund klappte zu; sic saß stocksteif, die Hände in den schwarzen Handschuhen im Schoß, ein zerdrückter, schwarzer Vogel, der mit kleinen Beerenaugen geradeaus blickte. Sie verstand nichts von dem, was Mary sagte. Wie, man ließ sich scheiden, ohne sich zu hassen? Man traf sich noch und sprach miteinander wie Freunde, man war nicht einmal böse und behauptete, keiner habe schuld, nichts habe schuld?
«Ach», machte sie hilflos, «was heißt denn das alles? Es muß doch was passiert sein.»
Mary erklärte ihr, daß nichts passiert sei. «Gar nichts, verstehst du», sagte sie, ermüdet von der Anstrengung, einen Schatten zu beschworen, der, einmal leibhaftig wie der Teufel, Schrecken verbreitet und nichts hinterlassen hatte als unklare Erinnerungen an den Alpdruck eines Traumes. Was war denn? dachte sie. Nichts, man hatte sich nicht einmal etwas getan.
Erschöpft setzte sie sich wieder hin. Das Licht, herabgebrannt, flackernd, warf schmutzige Glut in das Gesicht der alten Frau. Jetzt lächelte sie.
«Du wirst mir ja nichts erzählen, ich weiß schon ... Ich hab was gehört.» Und schnell, in einer Art unterdrückter Lust: «Ihr werdet ja wegen Ehebruch geschieden!»
«Weil\\\'s nicht anders geht«, erklärte Mary kalt. Sie hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen und räumte die Bücher in das Regal. Außer diesen Büchern, ihren Kleidern und Zeichnungen hatte sie nichts mitgenommen; die Möbel waren von einem billigen Tischler gefertigt, die Decken im Warenhaus gekauft und die Betten neu und fast ärmlich. Bilder besaß sie überhaupt nicht, bis auf eine kleine Photographie, auf der Alfred Riek in einem weißen Spitzenkleidchen, drei Jahre alt, ein kindliches und doch schon damals gültig-ernsthaftes Lächeln zeigte.
Schon jetzt geneigt, alles bis auf dieses gute Lächeln zu vergessen, verteidigte sie ihn mit bis zur Erbitterung gehendem Eifer.
«Sage nichts gegen ihn!» schrie sie und schlug klatschend mit der Hand auf das Regal. «Er ist der beste und feinste Mensch, der rumläuft, verstehst du! Und damit ihr’s wißt und euch nicht Unsinn ausdenkt: die Scheidung ist wegen Ehebruch eingeleitet, weil es partout nicht anders geht. Vorerst gibt mir Alfred etwas, daß ich leben kann..
«Wieviel?» erkundigte sich die Mutter.
«Na so... ich weiß nicht,... was ich so brauche, bis ich genug verdiene. Ich werde sehr fleißig sein, vielleicht finde ich ‘ne Stellung als Modezeichnerin oder so. Bis jetzt brauch ich nicht viel. Ich will ja auch nichts. Nichts als meine Freiheit. Aber», damit sprang sie auf, das Licht zuckte erschreckt, «aber ich verbitte mir das Gerede von Schuld oder Nichtschuld. Alfred und ich haben uns sehr gerne, jawohl sehr gerne,... und wir haben uns nichts getan. Nichts, als daß wir eben verheiratet waren. Keiner ist Schuld, verstehst du? Keiner als die Ehe.»
Nein, die alte Frau verstand gar nichts. Sie lief ihrer Tochter bis in das dunkle Schlafzimmer nach und schrie mit klagender Stimme: Was denn das heiße, andere Leute seien doch auch verheiratet, und warum es denn da ginge?
«Weiß ich?» schrie Mary zurück und riß sich die Bluse von den Schultern.
Die Mutter klagte weiter. «Was soll denn das?» flüsterte sie kopflos. «Man muß doch verheiratet sein.»
«Muß man?» Mary nickte. Die da, dieses hilflose Wesen, das mußte wohl verheiratet sein. Und mehr von Mitleid als von Liebe bewegt, streckte sie die Hand aus. «Du solltest das doch eigentlich verstehen.»
Da ging die alte Frau hinaus; sie schwieg, angerührt von einem bittern und jähen Schmerz, den sie ebensowenig begriff wie alles andere.
Nach einer Weile kam Mary in das Wohnzimmer; es war schon dunkel, so puderte sie sich ohne Licht. Als sie die Flurtür öffnete, sah die Mutter, daß sie festlich gekleidet war; sie trug ein seidenes, hellila Kleid, in dem sie wie in einem kurzen anliegenden Hemd steckte, um den mageren Hals eine Reihe schwerer, wie Glas schimmernder Perlen und die Haare aus der Stirn gekämmt in einer nach hinten stürzenden Welle von dunkler Röte über dem erschreckend weiß gepuderten Gesicht.
«Pfui, siehst du aus», sagte die Alte. Und Mary zog die geschminkten Lippen vorsichtig von den großen Zähnen zurück. «Ich weiß, Mama, aber das wirst du wohl nun nicht mehr ändern können. Komm man, ich geh runter zu Trude; bei mir ist es jetzt doch dunkel, ich hab vergessen, Lichte zu besorgen... Und bei Trude unten sind doch wenigstens Menschen.»
An diesem Abend waren fast alle, die das neue Haus bewohnten, bei Trude versammelt. Sie hatten sich gefunden kraft einer Verwandtschaft des Geistes, die sie in die gleiche, schwer zu erlebende, leicht zu lebende Zeit stellte. Sie waren nicht viele, die ersten, denen das große Haus Heimat und Familie ersetzen sollte, vorwiegend Frauen und die Männer so. kindlich jung, daß sie sich mit den Frauen verständigten wie mit ihresgleichen und gemäß den besonderen Gesetzen ihrer neuen, unbedenklichen Kameradschaftlichkeit.
Da war zuerst, immer zuerst trotz Krankheit und bemitleidenswerter Verlorenheit Trude, daneben Grete in ihrer seltsamen, halb dienenden, halb befreundeten Stellung, dann Maria Jahns, Fürsorgebeamtin und wohl nur in diese Gesellschaft geweht, weil sie zwei Zimmer im linken Flügel bewohnte, parterre neben der Gymnastikerin Katta Schlichter, die sich mit ihrem ganzen zugreifenden Elan an Trude angeschlossen hatte, und von oben aus dem Atelier Sonja mit ihren zwei Männern, von ihr vielleicht wegen des Wortwitzes «Peter und Paul» genannt oder aus dem gleichen Grunde gewählt. Dazu kamen die Gäste, nicht ganz gleichgerechtigt, aber mit der dieser Jugend eigenen Vorbehaltlosigkeit akzeptiert — Bobby, von der Trude selbst sagte, dass sie, schrecklich und liebenswert zugleich, ein Stück ihrer eigenen schlimmen, kaum überwundenen Vergangenheit verkörpere, und Paulchen, das Kind genannt, und in diesem seltsamen Kreise heimisch durch die charmante Art seiner verderberten Naivität, das Auto seines reichen Vaters und die Verehrung, mit der er wahl- und grundlos nacheinander Trude, Katta, Maria und Mary beschenkte.
Als Mary kam, war die Festlichkeit — denn eine Festlichkeit sollte es sein, obwohl niemand recht an die krampfhafte Lustigkeit dieser Abende glaubte — schon in vollem Gang, das sogenannte Abendgetränk, verdünnter Mosel oder billiger_ Apfelwein, fast ausgetrunken und die Stimmung sehr angeregt. Trude lag wie immer auf dem lila Sofa, im Schlafanzug und zwischen den grünen Kissen doppelt schwach und klein, bewacht von Grete in ihrer trachtenähnlichen Kleidschürze, die anderen saßen auf Kissen auf dem Boden einen niedrigen Tisch bei gedämpftem Licht, das zur «Stimmung» gehörte wie Wein, Tanz und Zigaretten. Sie stritten sich wie gewöhnlich, das heißt: sie spielten eine Art heiteren Theaters, in dem sie die Schwierigkeiten ihres Lebens belachten und aus Not und Gefangenschaft, Einsamkeit und Leichtsinn eine Komödie freiwilligen Zigeunertums machten. Heute griffen alle zugleich Paulchen an, dem sie vorwarfen, daß er sie verraten und verkauft labe, weil er nur bis zwei, statt wie sonst bis drei im Café gewartet hatte.
«Was soll ich denn machen», schrie er verzweifelt, «wenn ich als Geisel bei Mampe sitze? Sonja hat versprochen, mich auszulösen, aber was tut Sonja?»
«Sonja geht spazieren», erklärte Trude. Das war ein Grund zum Lachen, denn jetzt gaben Peter und Paul ein erfrischendes Bild dieser Spaziergänge, die sie mit immer anderen, immer neuen Männern unternahm. «Was wollt ihr?» sagten sie. «Jeder macht seins. Und Sonja hat es nun einmal mit der Natur.
«Und den Kerls», sagte Bobby grob. Trude lachte spitz und hoch wie ein Vogel, Peter und Paul zuckten die Achseln. Sie fanden an Sonjas schnell wechselnden Abenteuern ebenso wenig wie Sonja selbst, die im übrigen brav und fleißig dem originellen Haushalt ihrer dreiteiligen Ehe vorstand und ihnen bei ihrer Arbeit half: Försterköpfe, weintrinkende Pfaffen und Hühnerhöfe in Öl zum Preise von fünfzig Pfennige bis fünf Mark — damit ernährten sie sich mehr schlecht als recht und trösteten sich in ihrer Freizeit mit symbolischen Gemälden, zu denen sie Sonjas dünne Schultern und die Einfalt ihres sanften, einer kindlichwahllosen Liebe geweihten Herzens begeisterte. Trude fand dieses Leben rührend, Bobby, im Mànnerbal3 mit verkokster Stimme, dämlich, Maria befremdend wie alles, was sie hier erlebte, und Mary so belustigend, interessant und neu, daf3 sie ihr Kissen an Sonjas schöne Beine schob und von unten herauf hungrig in das kleine, geschminkte, gleichmütige Gesicht blickte.
Von hier aus beobachtete sie, sehnsüchtig bereit, sich der Ausgelassenheit hinzugeben, die von den anderen spielend erreicht wurde: Peter hatte bereits zweimal das Lied vom Polenkind gesungen, Paulchen sich kostümiert und, lächerlich geschminkt, Beifallsstimme geerntet, und Bobby kurzerhand den Wein ausgetrunken und damit einen Rausch erzielt, der sie nun ganz einem gealterten, verwüsteten Mann amt schweren Beinen, knappem Röckchen und trunken zitternden Lippen ähnlich machte. Sie schrien alle zugleich, unterhielten sich in einem Atem über moderne Architektur, ungehinderten Kokaingenuß, Automarken und gerieten zwischen der Vorführung eines Charlestons und einer wütenden Szene mit Maria, der sie Bürgerlichkeit und verdammenswertes Spießertum vorwarfen, in einen heftigen Streit über Sinn und Nutzen der Liebe.
«Liebe!»
Einer hatte das Wort in den Lärm geworfen, es traf sie, als hätten sie einen Kontakt berührt, der sie alle zugleich in Feuer setzte.
Hinter den verschlossenen Fenstern wurde die Nacht spürbar, drängte sie aus den Schatten der glatten Wände zusammen unter die große, flachgespannte Lampe in das Licht, das plötzlich glänzende Augen, erschreckte Gesichter und einen nichtgewußten Ausdruck von nichtgewußtem Schmerz enthüllte.
Paulchen lachte, er kannte wohl nichts anderes als dieses Lachen, das den ganzen Menschen zur sinnlosen Oberfläche machte. Paul deklamierte spottisch einen Vers, mit dem er das Gefhr1iche dieses Begriffs in die ihnen gewohnte, ja eigentlich nur erträgliche Entgleisung des Gefühls schob: «In Sachen der Sexualität verstand er keinen Spaß. . .», und Peter streckte den schmalen Hundekopf vor und sagte in dem saloppen Jargon, der hier Maske, Schutz und Verständigung bildete: «Ich hör immer Liebe... Bloß keine Ausreden, meine Damen . . Das geschätzte Privatleben muß ja nicht unbedingt im Mondschein erledigt werden. Das ist doch vorüber. Aber wer so was sucht?»
Hier schrie Sonja: «Idiot!» und erklärte mit Leidenschaft, feuchten Auges und der Ekstase ewiger siebzehn Jahre: «Liebe ist überhaupt das einzige, warum... Und wenn man auch so tut, als ob, und den ganzen Quatsch nicht mitmacht, darum will man doch was fühlen und Sehnsucht haben... und weinen... und...»
«...spaziergehen» jauchzten die Jungens. Aber Sonja hatte nun wirklich Tränen in den Augen, und Maria umarmte sie zärtlich, wobei sie schweratmend flüsterte:
«Das ist doch kein Thema für euch. Ihr behandelt das so..., das ist doch ekelhaft.» Und plötzlich schrie sie, die Hände geballt und das magere Gesicht fanatisch erleuchtet:
«Dafür lebt man doch! Und dafür... stirbt man!»
«Ruhig, Maria», sagte Katta. «Du bist eine entsetzliche Person! So behandelt man das heute nicht mehr. Liebe, ganz gut und schön, aber gefälligst in Grenzen und mit Ehrlichkeit. Die moderne Frau — brüllt nicht schon wieder! — die moderne Frau muß endlich lernen, diese Sache vernünftig anzusehen. Wo kommt sie denn sonst hin? Arbeiten und aus Liebe sterben, wie ein Mann schuften und für ihn, den Herrlichsten, leben — wie willst du das machen? Außerdem glaubt dir den Schmus kein Aas mehr, er am allerwenigsten. Ich für meinen Teil. .
Da unterbrach sie Paulchen, stürzte zu ihr, umarmte sie und sagte strahlend: «Du für deinen Teil. . .? Auf deinen Teil kommt überhaupt keiner. Gymnastikerin! Gott behüte! Wenn ich mich nicht erbarme. . . »
Und er erbarmte sich; er versuchte sie zu küssen, und die andern rückten kreischend zur Seite, denn Katta schlug in der Wut wie ein Mann; und wenn auch niemand gegen derartige Belustigungen etwas einzuwenden hatte, räumten sie doch lieber vorher Kissen und Gläser aus dem Weg und sangen den Seemannschoral mit gefühlvollen, lauten Stimmen, was sie schnell in einen melancholischen Rausch trug. Selbst Trude sang mit, zwischendurch verschwand sie für Sekunden und kam zurück, sprühend aus Auge und Haut wie ein Licht, das sich an seinem eigenen Feuer verzehrt. Zum Schluß wurde das Grammophon wieder aufgezogen; sie drehten sich langsam, Glückliche und Berauschte, in einer Kette verschlungener Schatten.
Es war zwei Uhr geworden, und um halb drei klingelte es. Draußen an der Tür stand ein Herr, ein Fremder, dachten die anderen, Trude wußte, daß er seit einigen Tagen die Wohnung unter ihr bewohnte.
«Meiner Frau ist nämlich nicht ganz wohl», sagte er, «und würde gern schlafen, falls Sie ein bißchen leiser tanzen könnten. Ich verstehe ja, daß Sie…»
Indem sagte Paulchen schon: «Dann kommen Sie doch ein bißchen rein. Wir sind sehr nette Leute, und wenn Sie Glück haben, kriegen Sie noch cm Glas schlechten Wein.»
Damit war die Bekanntschaft geschlossen. Der Fremde trat näher, ohne jede Förmlichkeit und so natürlich, daß sie schnell vertraut wurden. Er gefiel ihnen, sein Gesicht gefiel ihnen, ein großes, eher häßliches als schönes Gesicht mit starkem Kinn und breiter Stirn unter lose fallenden, braunen Haaren, seine schwere, große Gestalt, die jung wirkte, obwohl er sicher an die Vierzig war, und den Frauen gefiel besonders die tiefe, ruhige Stimme und der leichte Akzent. Dabei sprach er wenig, blickte sich um mit einem zugreifenden, gleichsam saugenden Blick, nannte seinen Namen:
André Murat — auch dies ohnenhin und formlos, wie es seiner ganzen unbedenklichen Art entsprach — und fügte sich unauffällig, dabei immer merk- und spürbar in die kleine Gesellschaft.
Er wollte eine Viertelstunde bleiben, das sagte er zu Anfang, bevor er sich neben Mary auf den Kissen an der Wand niederließ, aber aus der Viertelstunde wurde eine Stunde heftiger Ausgelassenheit und vieler rauschvoller Tänze, die Mary in seine Arme führten, unter seine aufmerksamen und ernsten Augen. Paulchen holte noch einmal Wein, und Katta versprach, leise zu tanzen, um Frau Murat nicht zu stören, die unter ihren Schritten schlief. Wie ein Kind lag Sonja an Trudes Brust; Paul schlug den Takt zu den selbsterfundenen Tänzen, die Peter mit verdrehten Augen und berauschtem Gelächter zum besten gab. Sie sahen ihm zu, Maria neben Grete vor dem Fenster, dessen Schwärze einem leichten, fließenden Grau gewichen war, Trude aufrecht und blassen, leidenden Gesichts aus den grünen Schatten ihrer Kissen und Mary an Murats Schulter, neben ihrer Stirn den ruhigen Mund des Mannes, dessen Atem sie an ihrer Schläfe fühlte.
Einmal deutete er auf die Tanzenden, doch sie sah nur seine Hand; zugleich traf sie sein Blick, nun blickten sie sich an, aufmerksam wie Gegner. Und als er plötzlich, ohne zu fragen, ihre Schulter faßte und sie in seine Arme zwischen die Tanzenden zog, stemmte sie sich gegen seine Brust und schüttelte stumm den Kopf.
Da brachte er sie ebenso ruhig zu ihrem Sitz zurück, wandte sich um und verabschiedete sich ohne Erklärungen und fast laufend. Mary wollte ihn rufen, aber sie hatte seinen Namen vergessen.
Tratto da
Nelken, Dinah:«Einenhalb- Zimmer-Wohnung», 1933