Treue
,,Warst du mir treu?” fragte er, von einer kleinen Reise heimgekommnen. Er wußte genau, sie würde auf alle Falle ,ja” sagen. Trotzdem lie, sobald sie es getan hatte, sein Herzklopfen nach. Trotzdem glaubte er ihr nicht und versuchte, sie mit alledei Fragen in die Enge zu treiben, bis sie sagte:
,,Es hat mich ùberhaupt keiner gereizt.”
,,Ach so”, sagte er enttliuscht, ,,dann ist es allerdings kein Kunststùck.”
,,Wanim soil es denn ein Kunststùck sein? Treue ist doch keine Varieténurnmer.”
,,Du bist frivol. Siehst du denn nicht ein, wie verràterisch deine Argumentation ist? Es hat dich keiner gereiztt Ein Zufail, nichts weiter. Ein anderer Zufail kann nichste Woche, morgen schon, eir n Mann in deine Nlihe fiihren, der dir gefailt — und dann natùrlich ist es ganz etwas anderes. Dann wùrdest du ohne weiteres — nicht w2hr? Und du siehst nicht ein, wie unertràglich es mir sein muI3, die Ruhe meines Herzens einem soichen Zufail ausgeliefert zu wissen?”
Sie betrachtete ihn mit den Augen eines sanftmùtigen, aber verst ndnis1osen Engels: ,,Wenn ich bloB wù&e, was dir daran nicht recht ist, dall mir kein anderer Mann...”
,,Treue, mein Kind, ist ganz etwas anderes. Treue, auf die man bauen kann, die muß ganz anderswo verankert sein, als im Geschmack oder in Zufällen. Treue ist doch vor allem ein Prinzip, ein moralischer Entschluß — verstehst du? Wenn ich so frivol wäre wie du-”
„Na, was wäre dann?”
,,Dann hätte ich dich schon längst betrogen. Ja. Wenn ich wie du nichts wäre als ein Spielball meiner erotischen Launen...”
In diesem Augenblick entstand im Luftraum zwischen ihnen beiden das Phantom einer blonden übermütigen Frau. Ihr Name fiel, de erotische Laune war zugegeben.
,,Du leugnest also nicht, daß sie dich gereizt hat”, sagte sie, ,,das ist wenigstens anständig von dir. So sei aber auch konsequent und gib zu, daß du es bist, der nichts von Treue weiß. Du bist bloß feige und bequem — du mit deinem moralischen Entschluß. Du willst dir unangenehme Auseinandersetzungen ersparen — vielleicht hast du gar Mitleid mit ihm?”
Ein entscheidender Stimmungsumschwung war eingetreten: sie verriet mit jedem Wort Erregung, während er, himmlischer Ruhe voll, sie sanft und verständnislos ansah: ,,Ich verstehe dich nicht. Wäre es dir denn lieber, wenn ich in solchen Fällen mich und dich vergäße...?”
,,Moralischer Entschluß! Darauf pfeife ich! Ein treuer Mensch braucht keine Prinzipien, um treu zu sein. Prinzipiell, mein Lieber, prinzipiell hätte ich dich sehr gerne mit dem kleinen Ingenieur betrogen, schon deshalb, weil er der Verlobte deiner blonden Flamme ist, aber ich war einfach nicht dazu imstande. Weil er mich vollkommen kalt läßt, weil ich dir eben wirklich treu bin, weil...”
*
,,Glauben Sie, daß hier ein grundlegender Unterschied zwischen Mann und Frau besteht?” fragte sie selben Abends den kleinen Ingenieur, ,,darin nämlich, daß die Frau konstitutionell treu sein kann, der Mann aber bloß prinzipiell”
,Ja”, sagte er, und das ärgerte sie, denn sie galt nicht gerne für besonders weiblich. Aber sie bemerkte nicht, daß sie sich ärgerte, sondern sie bemerkte, daß der Ingenieur sie doch nicht gar so kalt ließ, wie sie geglaubt und behauptet hatte.
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Glauben Sie, daß hier ein grundlegender Unterschied zwischen Mann und Frau besteht?”, fragte er die übermütige Blondine, ,,darin nämlich, daß der Mann prinzipiell treu sein kann, die Frau aber bloß konstitutionell?”
,,Nein”, Sagte sie, ,,denn bei mir ist es umgekehrt. Ich brauche manchmal mein ganzes Pflichtgefühl...”
Irgendwas in ihren Augen machte aus diesen Worten eine Schmeichelei. Er bemerkte aber nicht, daß er geschmeichelt war, er bemerkte bloß mit einer gewissen Besorgnis, daß auch ein moralischer Entschluß kein sicheres Asyl für die Ruhe eines eifersüchtigen Herzens ist.
War ihm seiner Gattin Verhalten wie ein Tanz zwischen Brandfackeln erschienen, so schien ihm heute sein Prinzip ein dünnes Seil, gespannt über mancherlei Abgrund; was hatte sie doch unlängst gesagt der Treue als — Varieténummer?
Tratto da:
Kaus, Gina: Die Unwiderstehlichen, Kleine Prosa, Oldenburg 2000, pp.35 – 37.