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Esilio, espatrio, migrazione al femminile nel Novecento tedesco

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Dreh Dich nicht um

Sie waren jung, und es war Frühling. Sie glaubten nicht an den Tod, wenn sie auch keine Uniformen trugen und in ihrem Zimmer in dem Kasten das Skelett lag. Auch daß sie im Spital, auf seinen Wegen und in seinen Räumen täglich auf ihn stießen, änderte daran nichts. Sie wollten nicht an ihn glauben. Die Luft wehte vom Meer her und trieb den Duft der Orangen über Ährengräser, die müde waren von allzu üppigem Blühen. Noch leuchteten die wilden Chrysanthemen und Anemonen in Gelb und Rot. Doch schon zerfransten ihre Kronenblätter und hingen welk im blaß gestaubten Netz der grünen Stengel. Sie beachteten die Zeichen des Verfalls nicht. Auch daß die Apfelsinen noch immer ungepflückt in dem gelackten Laub hingen, beachteten sie nicht. In diesem Jahr trugen die Schiffe keine Frucht nach Norden. Nur Truppen transportierten sie und Waffen.

Doch sie dachten nicht an den Krieg. Nicht jetzt, da ihre lehmfarbenen Röcke und Blusen einsanken in die Wildernis des Blühens. Das schwarze Haar der einen und das krause der andern tauchten zwischen den Gitterstäben des hohen Grases auf. Hinter ihnen blieb ein Pfad geknickter Halme.  Auch darauf achteten sie nicht. Sie schauten nicht zurück. Sie bemühten sich, nicht zurückzuschauen. Sie pflückten Blumen, und sie lachten, während sie die Hand ausstreckten und sich nach ihnen bückten. Der Klang der Stimmen hüpfte über Schirme von Schirling und Anis, über Kelche von Mohn und Ackerwinde. Er glitt an Schnüren und an Strahlen entlang mit dem Zirpen der Heuschrecken und dem Gesumm der Bienen.

Als sie den Stacheldraht erreichten, dort wo die Spurenketten der schweren Panzer endeten und Wellen gelben Sandes die trockene rote Erde überspülten, kehrten sie um. Sie wandten sich von der Sonne ab und führten ihre Schatten die Bungalows entlang, in denen früher die Familien von Beamten wohnten und die jetzt den Soldaten vieler Länder als Herberge für ein paar Tage, ein paar Wochen dienten. Soldaten in Khaki, ein jeder mit dem Abzeichen des Landes, zu dem er sich bekannte. Soldaten und Soldatinnen. Sie nahmen es als selbstverständlich hin wie die verwilderte Verbena in den vernachlässigten Gärten, wie ihre eigene Anwesenheit an diesem Ort. Vielleicht hätten sie Grund gehabt, sich zu verwundern. Vielleicht verwunderten sie sich auch, wenn sie nachdachten. Sie bemühten sich, nicht nachzudenken. Es war viel zu gefährlich, konnte zurückführen nach Warschau und Berlin. Dreieinhalb Jahre, die verflossen waren, bildeten eine zu dünne Schicht, längst nicht dick genug, um zu isolieren gegen Schmerz. Warschau und Berlin. Beide galt es zu vergessen. Sie taten, was sie konnten. Die Uniform bewies es. Das musste genügen.

Gedanken an Eltern und Geschwister, an Freunde und Bekannte, zurückgelassen und der Willkür des Hasses ausgeliefert, waren nutzlos und mußten eingefroren werden, denn sie behinderten das Leben. Und wenn es ihnen nicht gelang, versuchten sie doch, es nicht einzugestehen. Nicht den andern und nicht sich selber. Es war tabu, davon zu sprechen. Es war tabu, daran zu denken. Wohin sie sich auch wandten, waren sie vom Tod umgeben. Doch es war Frühling, und sie wollten leben, und so beachteten sie seine Zeichen nicht.

Sie gingen vorbei an Drillplatz, Schiefständen und Hütten zum Ausprobieren der Masken gegen Giftgase. Sie trugen Blumen in den Armen, Schafgarbe, Löwenmaul, Zichorie und wilde Tulpen. Bungalows in ungepflegten Gärten. Nur Gewächse zäh genug für wasserlose Sommer hatten überdauert. Sudanesen standen an einem Fenster. Sie reinigten ihre Gewehre und winkten ihnen eine Gruß zu. Frauen in Khaki gekleidet wie sie selber mit dem Abzeichen eines andern Volkes saßen auf einer Veranda und unterhielten sich in Polnisch. »Sie ahnen nicht, da1 ich ihre Sprache verstehe«, sagte Jascha, die Schwarzköpfige zu ihrer Freundin, »sie würden sonst vorsichtiger in ihren Bemerkungen sein.« Pickelhauben mit herabhangendem Sonnenschutz und darunter gebräunte Gesichter. Soldaten mit Baretten, Soldaten mit Schirmmützen. Soldaten und Soldatinnen.

Sie erreichten den Bungalow, in dem sie wohnten, ihr Heim für unbestimmte Zeit, bis ein Befehl sie weiterführte in einen andern Bungalow, in eine andere Baracke, ein anderes Zelt. In diesem Lager oder in einem andern. Hier, jenseits der Wüste, jenseits des Meeres. Es hing von dem Verlauf der Kämpfe ab, davon wie sich die Front verschob, diese Front, die ihre ausrangierten Teile, beschädigt oder unbrauchbar geworden, in Werkstätten und Spitäler schwemmte. In Spitäler und auf Friedhöfe. Doch sie dachten nicht daran. Sie bemühten sich, nicht daran zu denken. Auch nicht daran, daß es sie selber treffen konnte. Auch nicht daran, dass ihr der Fallschirmspringer mit den zerstückten Beinen auf ihre Frage nach seinem Befinden gestern »not too bad« geantwortet hatte, sich umdrehte und starb. Auch nicht daran, daß in dem Leib des Franzosen, der noch ein Knabe war, die Kugeln wie Patronen in einem Gürtel staken. Auch nicht daran, daß seit zwei Jahren kein Formular mit rotem Zeichen von drüben gekommen war. (Fünfzehn Worte, nicht eines mehr erlaubt, in steifen fremden Buchstaben gedruckt und nur die Unterschrift vertraut: Uns geht es gut. Wie geht es Dir? Herzliche Grüße Deine Eltern, Deine Schwester.) Auch nicht daran, daß ihre Mutter allein im Ghetto geblieben war. Warschau und Berlin. Sie dachten nicht daran. Sie wollten nicht daran denken.

Sie füllten die Vasen mit ihren Blumen und nach den Vasen leere Dosen und nach den Dosen ihre Tassen. Sie überschütteten das Zimmer mit Frühling, auch wenn es Frühling war, der schon verwelkte. Sie stellten Sträuße vor die Fenster und auf das Brett neben den Kasten und die Bucher. »Lexikon« stand darauf geschrieben, »Gedichte«, »Anatomie«.

»Und jetzt Frau Pomeranz.« Rachel griff nach dem Schädel, der zwischen Knochen in dem Kasten lag, und streckte sich auf die Strohmatte des Eisenbettes aus. »Die Überreste eines Menschen und einer Hoffnung, deiner Hoffnung«, sagte Jascha und spreizte die langen Beine auf ihrem Laken, »statt Ärztin Pflegegehilfin. Statt Stethoskop Urinflaschen und Stechpfannen. Aber der Unterschied ist nur gering. «

»Major Smith hat es bestätigt.«

»Was bestätigt? Den Unterschied?« »Nein, daß es eine Frau ist.«

»War, meinst du.«

»Genaue Kenntnis des Skelettes ist besonders bei der Behandlung von Brüchen wichtig.«

»Bin nicht daran interessiert. Ziehe vor, Patienten mit Beschäftigungstherapie aufzunehmen.«

»Meinst du, daß sie verheiratet war?«

»Frau Pomeranz? Natürlich war sie verheiratet. Sonst stimmte doch der Name nicht.

»Ganz wie du wünschst.«

»Sie war noch jung. Die Knochen weisen darauf hin.«

»Jung und schön und klug. Wir können uns erlauben, großzügig mit ihr zu verfahren.«

»Und sehr verwöhnt.«

»Zugestanden, auch sehr verwöhnt.«

»Und reich.«

»Das könnte Schwierigkeiten bereiten. Es war nicht üblich, die Leichen wohlhabender Bürgerinnen als Skelette zu verkaufen. Damals noch nicht.« Warschau und Berlin. Nimm dich in acht. Dreh dich nicht um. Der Plumpsack geht um. Denk nicht daran. Hinter dem fahlen Gebein leuchten die gelben Sonnen der Chrysanthemen. Vergiß nicht, daß es Frühling ist.

»Laß mich nur machen. Sie verliebte sich.«

»Gut, sie verliebte sich. Es geschah in einem Frühling. Lieben paßt zu Jungsein und zu Frühling.« Auch ich liebe. Es macht nichts, daß er nichts davon weiß. Ja, es ist besser so, erspart Verwicklungen.

»Ihre Familie war nicht einverstanden mit ihrer Wahl.« Ich habe keine Familie, die ihre Einwilligung verweigern könnte, nur einen Vater, der sich darum nicht kümmert. Vielleicht auch eine Mutter drüben. Stopp. Verbotenes Gebiet. Wer weiter geht, begibt sich in Gefahr.

»Was sagtest du?«

»Ich sagte, sie heiratete ihn trotzdem und wurde enterbt. Sie zog mit ihm in eine andere Stadt.«

»Wie standhaft.«

»Es stellte sich heraus, daß er ein Schuft war, der es auf ihre Mitgift abgesehen hatte. Er schlug sie, und er trank.«

»Wie schrecklich. Doch spricht es nicht für ihre Klugheit, so leicht auf ihn hereingefallen zu sein.«

»Klugheit versagt in Herzensangelegenheiten.«

»Wie weise. Ich empfehle dennoch, seinen Charakter nicht allzu sehr zu schwärzen. Ich bin gegen unnötige Schlechtigkeit.«

»Gut, er war kein Schuft. Er hat sie nicht geschlagen. Aber ein Schwächling muß er gewesen sein. Darauf bestehe ich. Ich komme sonst mit der Geschichte nicht zu Rande.«

»Ein Schwächling also, zugegeben.«

»Er hat keinen Beruf erlernt. Er findet keine Arbeit. Schwere will er nicht. Leichte gibt es nicht. Er sucht Beschäftigung, die Geld einbringt, ohne daß er sich anstrengen muß. Eines Tages lernt er in der Bar, in der er wie gewöhnlich seine Abende vertrinkt, ein Mädchen kennen. Als er erfahrt, daß sie die Erbin reicher Eltern ist, überzeugt er sie von seiner Liebe, denn er hat Charme, das muß man ihm schon lassen. Er verschweigt ihr seine Ehe. Sie willligt ein, ihn zu heiraten, doch erst in einem Jahr, wenn sie ihr Studium beendet hat. Oder kannst du einen besseren Grund vorschlagen?«

»Vielleicht weil ihre Eltern diese Bedingung stellen.«

»Also gut, weil ihre Eltern diese Bedingung stellen. Um zu verhindern, daß sie es sich doch noch anders überlegt, sorgt er dafür, daß sie von ihm schwanger wird. Ihr Bruder entdeckt, da sie einem Hochstapler zum Opfer gefallen ist, und erschießt ihn, um die Familienehre zu retten.«

»Es überzeugt nicht. Zudem hattest du mir versprochen, keinen Schuft aus ihm zu machen. Warum nicht ihn sich einfach betrinken und dann von einem Auto überfahren lassen? Verkehrsunglücke sind von den unnatürlichen Toden noch die sympathischsten.« Vorsicht. Dreh dich nicht um. Der Plumpsack geht um.

»Also gut, wenn du es unbedingt so willst. Er betrinkt sich und wird überfahren.

»Tödlich überfahren. «

»Jawohl. Seine Frau ist untröstlich. Sie liebt ihn noch immer. Zudem erwartet sie ein Kind. Was sage ich? Untröstlich? Sie ist verzweifelt. So verzweifelt, daß sie sich das Leben nimmt.«

»Das tut sie keineswegs.« Warum so heftig? Warum geht eine Fiktion dir so nahe? Und dann, ist es wichtig, wie ein Mensch stirbt inmitten von Millionen? »Was soll sie tun?«

»Sie trägt das Kind aus und stirbt bei der Geburt.«

»In einem Hospital für arme Leute. Sie muß in einem Hospital für arme Leute sterben und unter einem falschen Namen.«

»Warum unter einem falschen Namen?«

»Um den Eltern die Schande zu ersparen.«

»Richtig. Namenlose werden als Skelette präpariert und an Studenten verkauft. Es leuchtet ein.«

»Das wäre alles, damit sind wir am Ende der Geschichte angelangt.’ »Nein<, sagte Jascha nach einer Pause, »es geht doch nicht. Irgendwie klingt die Geschichte falsch. Sie paßt nicht in unsere Zeit hinein. Wir müssen ihr ein anderes Kleid, ein anderes Schicksal nähen.«

»Warum? Nur weil wir selber zu einer anderen Welt gehören? Soli ich vielleicht ein Madchen aus ihr machen, das aus einem Ghetto flieht, auf der Flucht gefaßt wird und in einem Gefängnis stirbt?« Sie ist gemein. Sie weiß genau, wie ungern ich von meiner Flucht spreche. Ich erinnere mich auch kaum. Nur daran, da ich unwohl war und meine Hosen nicht wechseln konnte. Ich tauche erst in Rumänien wieder auf, wo mein Vater eine Liebschaft hatte mit einer Deutschen, von der sich dann herausstellte, da1 sie Spionin war, wenn ich auch nie erfuhr, für wen sie spionierte.

»Nein«, sagte sie, »das nicht. Aber ein Mädchen mit Ambitionen, das meint, den Zerfall seiner Illusionen nicht überdauern zu können. Das würde passen. Gerippe von Selbstmördern finden ihren Weg oft in Geschäfte für medizinische Bedarfsartikel.« Ich bin gemein. Doch sie ist schuld daran. Sie hat die Stichelei begonnen. Wir werden uns noch zanken. Da bei ist nicht einmal Chamsin heute, der als Entschuldigung für gereizte Leute gelten könnte. — Die Apfelsinen leuchten in dem Laub der Bäume wie Monde zu Beginn der Dämmerung.

»Spürst du den Duft der Orangen?«

»Was ist dabei? Sie duften den ganzen Tag, die ganze Nacht hindurch. «

»Doch nur solange es Frühling ist. «

»Du hast recht. Zum Teufel mit Frau Pomeranz und ihrer Geschichte. Sie geht uns nichts an.«

»Auch mit unserer eigenen Vergangenheit zum Teufel.«

Auch sie geht uns nicht mehr an. »Komm«, sagte sie, stand auf und rekelte sich, »es wird Zeit. Wir müssen ins Spital.« Draußen auf dem Flur wurden Stimmen laut. Der Sergeant-Major mit einer Soldatin, die sie nicht kannten, tauchte in der Tür auf. Eine Neue, dachte Jascha, für das Bett, das leer steht, seitdem Ruth nach Ägypten versetzt wurde. Schade, jetzt ist es vorbei mit dem Idyll zu zweit.

»So, nun ruhen Sie sich erst einmal von Ihrer Reise aus. Dann melden Sie sich bei mir im Büro.« Aber die Neue wich entsetzt zurück.

»Nein«, rief sie zitternd, »nicht hier. Ich schlafe nicht neben einem Totenkopf. Das können Sie unmöglich von mir verlangen.« Sie fürchtet sich vor den Toten. Sie weiß noch nicht, daß Tote viel harmloser als Lebende sind. Auch Ruth hatte kein Verständnis für Frau Pomeranz gezeigt. Doch das war anders, weil Ruth anders war. Unbekümmert hatte sie gelacht über die Marotte, wie sie es nannte, über große Mädchen, die noch mit Puppen spielten.

»Es sind doch nur ein paar Knochen«, versuchte sie zu beruhigen, »Rachel braucht sie für den Anatomieunterricht.« Doch sie wußte, ihre Worte überzeugten nicht. Sie nahm den Kasten, schloß den Schrank auf und schob das Skelett hinein. »Verschwunden«, sagte sie. »Was man nicht sieht, ist, als ob es nicht existierte.« »Ja, bestätigte die Neue erleichtert und stellte ihre khakifarbene Leinwandtasche auf die Strohmatratze des ihr zugewiesenen Bettes. Nein, dachte Jascha, sie hat es nicht begriffen. Ich wünschte, es wäre so. Doch es stimmt nicht. Unbequeme Gedanken und Erinnerungen lassen sich nicht so einfach einsperren oder ignorieren. Auch wenn wir uns darum bemühen, gelingt es nicht. Ich weiß das ganz genau. Doch es hindert mich nicht daran, es immer wieder zu versuchen.

»Sieben Minuten vor drei«, sagte sie.

»Ich komme schon.« Rachel legte Spiegel und Kamm in die Schublade zurück und folgte der Freundin.

 

Sie gingen durch den Schatten der Eukalyptusbäume über das schwarze Pechband der Straße zwischen Wegerich und Kamillen, die in den Gräben zu beiden Seiten wucherten. Sie gelangten zu den Baracken mit weitgestreckten grauen Dächern. Auf den Terrassen standen Betten, in denen Soldaten in den gestreiften Pyjamas der Patienten lagen.

»Hallo, Jascha«, rief einer ihnen zu, »was ist mit dem Tanz, den du mir versprochen hast?« Er hielt den linken Oberschenkel mit den Händen und exerzierte den Stummel seines Beines unter dem Kniegelenk. Ruckweise hob und senkte sich der Stumpf. Am Geländer der Veranda rieselten die welken Blätter von den Kronen der Chrysanthemen. Sie ließen rostig kahle Stempel zurück.

»Ja, sagte Jascha und bemühte sich, daran zu glauben, »wir werden tanzen, morgen oder übermorgen oder am Tag danach.«

 

Tratto da

Aloni, Jenny: Die braunen Pakete, Tel Aviv 1983

Jenny Aloni